Kriege

"Die Ukraine hat den Krieg provoziert"

Der Schweizer Militär- und Geheimdienstexperte Jacques Baud hat vier Bücher über den Krieg in der Ukraine sowie zahlreiche Beiträge und Interviews dazu veröffentlicht. Im Interview mit Tilo Gräser spricht er über die Ursachen des Krieges sowie die Aussichten für dessen Ende.

1748361615

Foto: ELG21; Quelle: Pixabay; Lizenz
Mehr Infos

HINTERGRUND Wie schätzen Sie jetzt, Anfang März 2025, die Lage im Ukraine-Krieg ein? Welche Tendenzen lassen sich bei ständig wechselnden Ereignissen beschreiben?

JACQUES BAUD In meinem Buch „Operation Z“ von Oktober 2022 ist alles beschrieben. Es war klar, dass die ukrainische Armee nicht in der Lage sein würde, die Russen zu schlagen. Die Russen haben mehrmals die ukrainische Armee vernichtet. Das erste Mal war im Mai und Juni 2022, als Selenskyj selbst gesagt hat, dass seine Armee zerstört wurde und von westlichem Material abhängig sei. Im November und Dezember 2023 hat er ungefähr das Gleiche gesagt, hat US-amerikanische, britische und deutsche Panzer verlangt, nachdem die ukrainische Armee ihr Material aus Sowjetzeiten und aus den Beständen verschiedener ehemaliger Ostblockstaaten verloren hatte. Das heißt, alles, was man heute sieht, ist einfach die Wiederholung von dem, was wir schon drei- oder viermal seit Frühling 2022 gesehen haben. Seitdem haben die Russen immer die Initiative gehabt, immer. Die Russen sind immer vorgerückt.

Das ist vielleicht der wesentlichste Punkt: Es gibt aus dem Westen und besonders aus den europäischen Staaten keine Vision, keine Strategie, wie der Konflikt sich entwickeln sollte. Man redet bereits seit März 2022 von einem Sieg der Ukrainer und der Niederlage Russlands. Aber man ist im Narrativ steckengeblieben, es hat sich keine Idee, kein Plan, keine Strategie, keine Zielsetzung herauskristallisiert. Und heute? Man kommt langsam an den Punkt, wo die Lügen in den letzten drei Jahren in Konflikt geraten mit der Realität. Bisher wurden diese Lügen einfach verbreitet, ohne jeden Beweis.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Frage: Was passiert, wenn man nicht verhandelt? Das ist genau die Dynamik, die wir nun erleben. Auf der einen Seite sind die US-Amerikaner mit Donald Trump – man kann denken von ihm, was man will, ich habe ihn massiv kritisiert in meinem Buch „Herrschen mit Fake News“. Aber er hat mindestens einen Vorteil gegenüber den anderen: Er versucht etwas zu tun, und das ist schon etwas. Ob es gelingt, werden wir später diskutieren. Mich erstaunt, dass die Europäer inklusive der Ukrainer keine Lösung haben für den Konflikt.

Man hat ein paar Panzer hingeschickt, aber man hat gesehen, das hat keinen Unterschied gemacht auf dem Schlachtfeld. Man hat MLRS, Mehrfachraketenwerfer, hingeschickt, das hat überhaupt keine Auswirkung gehabt. Man hat zusätzliche Drohnen und anderes geschickt, das hat keine Auswirkung gehabt. Das heißt: Wie stellen sie sich diesen Sieg gegen die Russen vor? Die Russen dürfen nicht Sieger sein. Aber was dann? Man hat keine Strategie für das, was es bedeutet, verlieren oder nicht verlieren. Übrigens, es geht noch weiter und wird geradezu surrealistisch. NATO-Generalsekretär Mark Rutte hat vor Kurzem gesagt: Die Ukraine kann nicht verlieren, aber die Frontlinie verschiebt sich in die falsche Richtung. Das heißt: Wir befinden uns nicht mehr in der Realität. Und das genau ist das Problem der Europäer. Zudem leidet ihre Wirtschaft darunter. Das heißt, der Preis ist extrem hoch.

Und für was? Das ist die Frage. Und diese Frage wurde bereits vor drei Jahren, im März 2022, gestellt, auch von Selenskyj selbst. Er tat das bereits am 25. Februar 2022, einen Tag nach Beginn der russischen Sonderoperation. Er hat Ignazio Cassis, den Schweizer Außenminister, angerufen, um eine Friedenskonferenz zu organisieren. Diese Konferenz hat nie stattgefunden. Aber dann gab es eine erste Runde von Verhandlungen, an der Grenze zwischen Belarus und der Ukraine. Dann kam die Europäische Union und hat gesagt: Stopp, wir geben 450 Millionen Euro für Waffen. Trotzdem wandte sich Selenskyj Mitte März wieder an die Russen, mit einem Vorschlag, der dann in Istanbul verhandelt wurde. Sie sind dem Ende der Kämpfe sehr nahe gekommen. Aber dann kam Boris Johnson nach Kiew und hat gesagt: Stopp! Ich habe die Verhandlungen bereits im Oktober 2022 in meinem Buch »Operation Z« erwähnt. Auch die ukrainische Presse hat über die Verhandlungen und ihr Aus berichtet. Im Westen hat niemand davon gesprochen. Die Zeitung Ukrainskaja Prawda schrieb daraufhin, das Haupthindernis zum Frieden seien die Europäer. Das heißt: Wir haben nicht einmal akzeptiert, dass die Ukrainer selbst ihr Schicksal bestimmen wollten.

HINTERGRUND Nun, Anfang März 2025, gibt es Anzeichen, dass eine Friedenslösung noch in diesem Jahr möglich ist. Verschiedene Beobachter wie US-Ökonom Jeff- rey Sachs, der deutsche Ex-General Harald Kujat oder auch der ungarische Botschafter György Varga haben vor Kurzem gesagt, dass es große Chancen auf ein Ende des Krieges gibt. Wie sehen Sie das?

BAUD Es ist klar, dass die US-Amerikaner diesen Konflikt hinter sich haben wollen. Deshalb üben sie Druck aus, dass Verhandlungen stattfinden. Aber es gibt auch Gegenkräfte, wie die Treffen von EU-Vertretern in Paris und London sowie der EU-Gipfel in Brüssel am 6. März gezeigt haben. Man sieht, die Europäer wollen keinen Frieden, und die Ukrainer wollen auch keinen Frieden. Für Selenskyj selbst und vielleicht für die kleine Gruppe um ihn herum geht es darum, dass ihr politisches Überleben mit dem Krieg verbunden ist, nicht mit dem Frieden. Das ist das Problem. Die russische Führung will Klarheit haben nicht nur über die Legitimität, sondern auch die Legalität eines Abkommens zwischen Russland und Ukraine. Und für das muss der ukrainische Vertreter im Vollamt sein.

Es gibt sehr viele Diskussionen über die Legalität von Selenskyj nach der Verlängerung seiner Amtszeit unter Kriegsrecht. Die Russen erinnern sich, dass es im Februar 2014 in Kiew ein Abkommen zwischen der Opposition und dem damaligen Präsident Janukowitsch gab, garantiert von Polen, Deutschland und Frankreich. Einen Tag später war dieses Abkommen vergessen, für das die drei Staaten beziehungs- weise ihre Vertreter ihr Ehrenwort gegeben hatten. 2014 und 2015 gab dann die Minsker Abkommen. Frankreich und Deutschland waren die Garantiemächte. Doch sie haben nie ihre Verpflichtung umgesetzt. Und die Ukrainer haben sich nie daran gehalten. Im Frühjahr 2022 gab es die Verhandlungen zwischen Russland und Ukraine in Istanbul. Niemand erwähnt, dass das Abkommen von beiden Seiten fast unterzeichnet war. Die Franzosen und die Deutschen sind gekommen und haben den Russen gesagt, als vertrauensbildende Maßnahme solle Russland seine Truppen aus dem Gebiet Kiew zurückziehen. Die Russen haben dem zugestimmt, um ihren guten Willen zu zeigen. Sie haben sich zurückgezogen. Danach wurde das vorbereitete Abkommen von den Ukrainern auf westlichen Wunsch vom Tisch gewischt. Den Russen ist bewusst, dass der Westen ständig sein Wort gebrochen hat. Sie haben da gewisse Hemmungen, mit westlichen Ländern Abkommen zu schließen. Deshalb wollen sie zumindest, dass Klarheit herrscht, wer der Präsident der Ukraine ist.

Es gibt ein Problem auf zwei Ebenen: Die Europäer wollen nicht mehr mit Russland oder mit Putin diskutieren. Aber es gibt noch eine andere Dimension, die man vergisst. Trump war schon während seiner ersten Amtszeit in der EU nicht gut angesehen. In den internationalen Beziehungen muss man die eigenen Interessen wahrnehmen, nicht mit Emotionen hantieren, sonst gibt es keine Diplomatie. Aber in Europa gibt es wieder einen ähnlichen Hass wie gegen Putin auch gegen Trump. Unsere Außenpolitik wird durch Hass geführt. Nicht mehr das nationale Interesse steht im Vordergrund, sondern Hass. Man hasst Putin, man hasst Lukaschenka, man hasst alle möglichen anderen. Ich bin ein „Kalter Krieger“, ein Großteil meiner Karriere war während des Kalten Krieges, insbesondere meine Karriere im Nachrichtendienst der Schweiz. Das war ein Krieg zwischen Systemen, aber nicht ein Krieg zwischen Menschen. Heute ist das ein Krieg zwischen Menschen. Wir sind extrem emotional und nehmen alles sehr persönlich, in unserer Gesellschaft allgemein. Aber auf politischer Ebene sieht man genau das Gleiche.

HINTERGRUND Ohne die US-Politik hätte es diesen Konflikt und Krieg in der Ukraine gar nicht gegeben. Und nun plötzlich spricht sich Washington dafür aus, den Weg des Friedens zu gehen. Ist das mehr als ein Wechsel nur der geostrategischen Prioritäten der neuen US-Führung, die sich stärker auf China konzentrieren will?

BAUD Das politische System in den USA erlaubt sehr bedeutende Kurswechsel. Das Schweizer politische System zum Beispiel ist ausgerichtet auf Kontinuität, dasselbe gilt für Deutschland. Jede neue Administration in den USA hat dagegen ihre eigene Richtung und ihre eigene Doktrin, siehe Wilson, Truman, Nixon als Beispiele. Das gibt es in keinem anderen Land. Deshalb gibt es auch immer wieder sehr massive Richtungswechsel, so wenn Trump zum Beispiel sagt: Das ist nicht mein Krieg. Das ist ein Krieg von Biden. Ich werde ihn beenden.

Trump hat eine andere Sicht der Außenpolitik und der Bedeutung der USA in der Welt. Ich glaube, seit Anfang der 90er Jahre denken die US-Amerikaner, dass die USA weltweit herrschen müssen. Das ist wie die Idee der Engländer im 19. Jahrhundert von der Rule Britannia, heute ist es die Rule America. Deshalb muss der Golf von Mexiko nun „Golf von Amerika“ heißen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden die US-Amerikaner, Europa könne ein Partner in der Bekämpfung des Kommunismus sein. Deshalb stand die Vorherrschaft der USA nicht so im Vordergrund. Aber seit Anfang der 90er Jahre haben im Grunde genommen alle US-Präsidenten immer die gleiche Leitidee von der US-Dominanz gehabt. Es ist wichtig zu verstehen, dass der jetzige US-Präsident diese Dominanz auch will, aber er sieht sie ein bisschen anders als seine Vorgänger. Bei den Demokraten wurde die Dominanz durch Außenpolitik erzeugt, für die Republikaner muss die Dominanz von innen kommen. Das heißt, zuerst müssen die industriellen Kapazitäten der Wirtschaft wieder aufgebaut werden, und dadurch kommt die Dominanz. Ungefähr so wie man sie vor dem Zweiten Weltkrieg hatte oder sogar während der ersten Jahre des Kalten Krieges. Die US-Amerikaner hatten keine so große Präsenz in der Welt wie heute, aber die USA waren damals eine industrielle Macht. Diese Macht ist verschwunden, weil die Produktion nach Indien, in die EU, nach Südamerika, nach Mexiko und anderswo verlegt worden ist. Das heißt, die USA haben ihre Fähigkeit verloren, dominant zu sein. Sie sind eine finanzielle Macht, aber nicht mehr eine industrielle Macht. Dafür ist China eine industrielle Macht geworden, weil die Produktion dorthin verlagert wurde. Das Gleiche gilt für Mexiko. Deshalb werden jetzt die Steuern auf die Einfuhr von Waren aus Mexiko erhoben, weil man die Firmen, die nun in Mexiko produzieren, zurück in die USA bringen will. Die gleiche Logik gilt für China.

Es ist diese Idee, dass der Aufbau der US-amerikanischen Macht nicht von außen, sondern von innen kommen muss. Ich glaube, das ist der Hauptwechsel in der politischen Meinung. Das heißt, jetzt werden alle Ressourcen für den Aufbau in den USA genutzt. Und das heißt auch, dass die Konflikte, die die USA betreiben, in Palästina, in der Ukraine und anderswo, nur Kosten verursachen, aber nichts bringen. Das ist die Grundidee. Trump ist kein Pazifist, kein Friedensliebhaber. Er ist einfach ein Pragmatiker. Und der sagt: Wir haben jetzt 350 Milliarden Dollar ausgegeben für diesen Konflikt in der Ukraine. Und dieser Konflikt bringt nichts. Es ist ein schwarzes Loch. Mann schickt Geld und das bringt nichts. Man sieht kein Resultat. Der Sieg der Ukraine ist nicht zu sehen. Das ist verloren. Das kann nicht sein.

Das vollständige Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 5/6 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.

JACQUES BAUD Jahrgang 1955, hat einen Master in Ökonometrie und ein abgeschlossenes Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit und internationalen Beziehungen. Er arbeitete als für die Ostblockstaaten und den Warschauer Pakt zuständiger Analyst für den Schweizer Strategischen Nachrichtendienst und leitete die Doktrin für friedenserhaltende Operationen der Vereinten Nationen New York. Dort war er zuständig für die Bekämpfung der Proliferation von Kleinwaffen bei der NATO und beteiligt an den NATO-Missionen in der Ukraine.

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Wie kam es dazu? Der Tod, ein Meister aus Deutschland
Nächster Artikel Zweiter Weltkrieg Ahnungslose Erben